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Tiergeschichte für Kids: Esel Asinus

Auf dem Weg nach Bethlehem

Autorin: Sophie Ferstl

THP 6 20 Page62 Image1Wenn die Nächte kürzer werden, es draußen kalt wird und sich alle Tiere in ihre Winterquartiere zurückziehen, verbringen auch die Esel viel Zeit gemeinsam und erzählen sich gegenseitig Geschichten. Die schönste handelt von Asinus, einem ihrer Vorfahren.
Er lebte vor über 2.000 Jahren mit seiner Familie – einer Gruppe wilder Esel – in Galiläa, das im heutigen Israel liegt. Niemals wäre einer von ihnen auf die Idee gekommen, sich Menschen zu nähern. Sie waren scheu und liebten ihre Freiheit. Immer wieder sahen sie, wie ihre Brüder, die Hausesel, die Lasten der Menschen tragen mussten und als Reittiere dienten. Und obwohl die Hausesel immer genug zu fressen hatten und von den Menschen sehr geschätzt wurden, hätte keiner der wilden Esel jemals seine Freiheit dafür hergeben wollen.
Der römische Kaiser Augustus war damals Herrscher dieses Landstrichs und hatte befohlen, dass die Einwohner dort gezählt werden sollten. Josef, ein Zimmermann aus Nazareth, machte sich deshalb mit seiner Frau Maria, so wie alle anderen Bewohner Galiläas auch, auf den Weg in seine Geburtsstadt Bethlehem. Auch wenn es nur 150 km waren, dauerte diese Reise damals zu Fuß fünf Tage. Erschwerend hinzu kam, dass Maria schwanger war.
Asinus war ein verwegener junger Wildesel. Obwohl seine Familie ihn immer wieder davor warnte, den Menschen zu nahe zu kommen, sehnte er sich danach, diese bedrohlichen Wesen einmal selbst zu sehen. Also schlich er sich eines Nachmittags, als die anderen gerade entspannt grasten und nicht auf ihn achteten, davon. Er lief und lief, aber nirgendwo begegnete ihm eine Menschenseele, denn seine Herde lebte weit abseits von Dörfern und Städten. Nach zwei Tagen erreichte er eine Straße. Versteckt hinter einem Busch am Rande des Weges beobachtete er Kaufleute, die ihre Waren in Wägen transportierten, er sah rö- mische Soldaten, die in voller Montur von einem Lager zum nächsten marschierten, und viele Menschen, die zu Fuß unterwegs waren. Bis auf die Soldaten, deren Schwerter in der Sonne blitzten und ihm bedrohlich erschienen, gefiel ihm, was er sah. Während er all das betrachtete, hatte sich ein Ehepaar in den Schatten des Busches gesetzt und rastete. Erst als Asinus ein Schluchzen hörte, bemerkte er die beiden. Asinus lauschte und erfuhr so die Namen der beiden. Die Frau hieß Maria und ihr Mann Josef. Beide wussten nicht mehr weiter, denn Maria, die hochschwanger war, war so erschöpft, dass sie nicht weiterlaufen konnte. Asinus tat die arme Frau sehr leid. Und weil sie ein sehr liebes Gesicht hatte und auch ihr Mann sehr warmherzig wirkte, trat er aus seinem Versteck heraus. Maria und Josef erschraken. Asinus senkte den Kopf, klappte seine Ohren zur Seite und schnaubte leise. Maria begann zu lächeln und täschelte seine Nüstern. Dann sagte sie: „Josef, das ist ein Geschenk des Himmels! Hilf mir aufzusteigen, dann schaffen wir es heute noch nach Bethlehem.“ Während Asinus ganz still hielt, half Josef Maria hoch und klopfte liebevoll auf seinen Hals, dann setzten sie gemeinsam ihren Weg fort.

THP 6 20 Page63 Image2Als es schon anfing zu dämmern, sahen sie vor sich die Stadt. Da aufgrund der durchgeführten Volkszählung so viele Menschen einen Schlafplatz für die Nacht brauchten, wurden Maria und Josef an jeder Herberge abgewiesen. Noch nicht einmal die Tatsache, dass Maria schwanger war und ihr Kind jeden Moment zur Welt kommen konnte, interessierte die Wirte. Nur einer hatte Mitleid. Er hatte zwar kein Zimmer mehr, in dem die beiden übernachten konnten, aber hinter seinem Haus stand ein Stall, in dem er seinen Ochsen untergebracht hatte. Er bot ihnen an, dort zu schlafen, dann hätten sie wenigstens ein Dach über dem Kopf, und Heu für Asinus gäbe es auch. Dankbar nahm Josef das Angebot an und die drei liefen zum Stall.
Josef fand in einer Ecke sauberes Heu und half Maria, sich dort hinzulegen. Dann gab er Asinus zu fressen, schließlich legte auch er sich erschöpft zur Ruhe.
Von all den aufregenden Erlebnissen war Asinus so mü- de, dass er sofort einschlief. Er schlief tief und fest, und als er nach ein paar Stunden aufwachte, sah er Maria und Josef nicht mehr dort, wo sie sich zum Schlafen niedergelegt hatten. Plötzlich hörte er leises Schmatzen. Er folgte dem Geräusch. Ein heller Schein erleuchtete den hintersten Winkel des Stalles, wo die Futterkrippe für den Ochsen stand. Vorsichtig näherte sich Asinus dem Licht. Je näher er kam, desto mehr Freude erfüllte ihn, obwohl er noch nicht sah, was sich dort abspielte. Als er nah genug war, sah er Maria im Heu sitzen, angelehnt an Josef, der sie im Arm hielt. Und in ein sauberes, weißes Leinentuch gewickelt, fütterte Maria ihren gerade geborenen Sohn. Als Josef Asinus kommen sah, lächelte er ihn an und sagte: „Ohne deine Hilfe hätten wir Bethlehem heute nicht erreicht! Was für ein Glück, dass du gerade im richtigen Moment gekommen bist!“ Dann wandte er sich wieder seiner kleinen Familie zu.

Im Laufe der nächsten Stunden, Maria hatte ihr Baby, dem sie den Namen Jesus gegeben hatte, zum Schlafen in die Futterkrippe des Ochsen gelegt, kamen immer mehr Menschen zum Stall. Erst kamen Hirten mit ihren Schafen, die erzählten, dass ein Engel ihnen gesagt habe, dass hier der Sohn Gottes zu Welt gekommen sei. Später kamen Sterndeuter, die einem Stern gefolgt waren, der nun genau über dem Nachtquartier der Familie stand, und brachten dem kleinen Jesus Gold, Weihrauch und Myrrhe.
Asinus war erfüllt von seinen vielen Erlebnissen. Nun sehnte auch er sich wieder nach seiner Familie, und so machte er sich auf den Heimweg. Die Herde war bereits in heller Aufregung über sein Verschwinden gewesen, und als sie ihn von Ferne am Gang erkannten, galoppierten sie ihm entgegen, sodass Asinus nur eine große Staubwolke sah, die immer näher kam. Als sie alle wieder vereint waren, berichtete Asinus von seiner aufregenden Reise. Damals wusste er noch nicht, was für ein besonderer Mensch mit seiner Hilfe in dieser Nacht geboren worden war. Erst im Lauf der Zeiten erfuhren auch die Esel, dass in dieser Nacht der Heiland das Licht der Welt erblickt hatte, und sie begannen diese Geschichte weiterzuerzählen. Und wenn heute die Menschen an Heiligabend ihren Hauseseln Karotten und andere Leckereien in den Stall bringen, dann erzählen sich Nachfahren von Asinus Jahr für Jahr voller Freude seine Geschichte.

Fotos: © C. Boonyakiatc – Adobe, J. Vila, © Michael Breuer – Adobe

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