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Kinderzimmer: Der Weg nach Bethlehem

Als Kalle das Christkind traf

Autorin: Sophie Ferstl

„Los, gebt den Tieren noch einmal etwas zu trinken, und ladet dann euer Gepäck auf!“, hörte das Kamel Kalle durch den Stall schallen. „Was ist hier los?“, fragte er sich und spitzte neugierig die Ohren. Caspar, Melchior und Balthasar riefen aufgeregt durcheinander: „Dieser Stern, den wir gesehen haben, ist wirklich außergewöhnlich. Wir müssen ihm schleunigst folgen! Mal sehen, wo wir landen.“
Melchior kam und legte Kalle das Geschirr an, um ihn an die Wasserstelle zu führen. Da Kalle wusste, dass nun ein langer Weg vor ihm liegen würde, trabte er voller Vorfreude mit und trank so viel er konnte. In der nächsten Viertelstunde landeten 200 Liter Wasser in seinen drei Mägen, wo Mutter Natur für diesen Fall große Speicherzellen angelegt hat, in denen so viel Wasser und Nährstoffe Platz finden, dass er im Extremfall bis zu drei Wochen davon zehren kann. Anders als die Menschen, die er immer wieder über seine Höcker sprechen hörte, dachten, ist in den beiden Hügeln auf seinem Rücken ein Fettspeicher, der dafür sorgt, dass er, wenn diese prall gefüllt sind, ebenfalls drei Wochen ohne Nahrung auskommt.
Als auch die anderen Freunde aus seiner Herde ausreichend Flüssigkeit aufgenommen hatten, legten ihnen Caspar, Melchior und Balthasar die Decken und Sattel auf den Rücken, bepackten weitere Tiere mit allem, was für die lange Reise notwendig sein würde, und nahmen vorsichtshalber auch noch Gold, Weihrauch und Myrrhe mit, falls sie unterwegs ein Geschenk brauchen sollten. Da den Dreien das Wohl der Kamelschar am Herzen lag, achteten sie darauf, dass das Gepäck gleichmäßig verteilt wurde und so die Reise für alle Beteiligten – Menschen wie Tiere – so gut wie möglich vonstattengehen konnte.
Dann ging es los. Da Kalle das älteste der Tiere war, durfte er mit Melchior im Sattel den Zug anführen. Vorsichtig setzte er Schritt um Schritt in den Wüstensand, und wenn Melchior sachte am Zügel zog, bog er dorthin ab, wo der Weg weitergehen sollte. In der ersten Nacht schlugen alle zusammen ihr Lager in Damaskus auf. Kalle und seine Gefährten bekamen zu essen und zu trinken, die Zelte wurden errichtet, und Caspar, Melchior und Balthasar bereiteten sich ein Mahl aus den Vorräten zu, die sie in die Satteltaschen gepackt hatten. Da sie vor Ort erfuhren, dass eine Gruppe Händler sich ebenfalls in die Richtung begab, die der Stern den drei Weisen zeigte, beschlossen sie, sich diesen anzuschließen, denn je mehr Menschen gemeinsam unterwegs waren, desto sicherer würde diese Reise sein, in Zeiten, in denen Wegelagerer überall darauf warteten, ihre Überfälle zu begehen und Leute auszurauben.
Tagelang trabten die Kamele nun durch die Wüste – tags- über brannte die Sonne auf sie herab, nachts schliefen sie unter dem glitzernden Sternenhimmel. Der Weg war lang und mühsam, und den Tieren schmerzten oft die Hufe, denn einen so weiten Weg hatten sie alle noch nie zurückgelegt. Dann erreichten sie eines Tages den Ort namens Jerusalem, in dessen Nähe die Weisen den Platz vermuteten, den der Stern ihnen zeigen sollte. Da die drei Magier durch Gespräche mit anderen, die ihnen begegnet waren, erfahren hatten, dass davon gesprochen wurde, dass der König der Juden geboren sei, beschlossen sie, zu Herodes, dem Stadthalter Jerusalems, zu gehen und dort nachzufragen, wo denn der neugeborene König der Juden zu finden sei.
Herodes, ein machthungriger und eifersüchtiger Mann, konnte den Dreien nicht weiterhelfen, bat sie aber, ihn in Kenntnis zu setzen, sobald sie Näheres in Erfahrung bringen sollten. So zogen sie weiter … und als sie plötzlich den Stern so deutlich am Abendhimmel sahen, dass nun das Ziel für sie erkennbar war, trieben sie Kalle und seine Freunde kräftig an, um noch vor Einbruch der Nacht das Ziel zu erreichen.
Alle waren sehr erstaunt, als sie erkannten, dass der Stern genau über einem Stall in Bethlehem leuchtete. Caspar, Melchior und Balthasar waren sich zwar absolut sicher, denn bisher hatten ihre Fähigkeiten als Sterndeuter sie nie getrogen, doch Kalle war skeptisch. Ein König in einem Stall, das schien ihm wirklich unmöglich, denn Könige wurden schließlich in Palästen geboren. Selbst im Morgenland, von wo ihr weiter Weg sie bis hierher geführt hatte, gab es Könige nur in großen, prunkvollen Bauten. Da er ja die Menschen schon öfter begleitet hatte, hatte er solche mit eigenen Augen gesehen, war von Dienern dort mit seinen Gefährten mit reichlich köstlichem Obst verwöhnt und anschließend in großzügigen Ställen zum Schlafen untergebracht worden. Hier in dieser Armut und Einfachheit, da war Kalle sich sicher, war ganz bestimmt kein König zu finden.
Er und seine Freunde wurden angewiesen, vor dem Stall zu warten. Jeder wusste, dass sie niemals weglaufen würden, daher war es unnötig, sie anzubinden. Er sah, wie Caspar, Melchior und Balthasar zaghaft am Tor klopften, und als sie nichts hörten, vorsichtig die Tür öffneten. Ein Schein, heller als alles, was Kalle jemals gesehen hatte, strahlte nun in die Dunkelheit hinaus, und die drei Weisen traten leise ein. Neugierig, wie er war, folgte Kalle den drei Männern, und das Licht, das sein Herz sofort mit einer Liebe erfüllte, die er niemals vorher gespürt hatte, umhüllte nun auch ihn. Caspar, Melchior und Balthasar waren vor seinen Augen auf die Knie gesunken und verbeugten sich ehrfurchtsvoll vor einem kleinen Baby, das in einer Futterkrippe lag. Das Licht ging ganz klar von diesem Kind aus, und jedem, der in der Nähe saß, ob die Hirten oder die Tiere, die in diesem Stall lebten, wurde ganz warm ums Herz. Nun war auch Kalle klar, dass hier ein ganz besonderer Mensch das Licht der Welt erblickt hatte: einer, der eben nicht ein König war, wie er das bisher kannte, sondern einer, der die Liebe in die Welt bringen würde. Er war glücklich, als er sah, wie die Weisen nun auch Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenke überreichten, und dass er und seine Freunde dazu beigetragen hatten, diesen besonderen Menschen auf Erden willkommen zu heißen.
Caspar, Melchior und Balthasar hatten schon bei ihrem Gespräch mit Herodes ein ungutes Gefühl gehabt und rieten Maria und Josef, wie die Eltern des kleinen Knaben hießen, lieber das Land zu verlassen, da sie vermuteten, dass der Statthalter Böses im Schilde führte, weil er keinen König neben sich dulden würde.
Um auch selbst nicht noch einmal mit Herodes zusammenzutreffen, wählten sie für ihre Rückreise einen anderen Weg. Und als sie viele anstrengende Wochen später wieder im Morgenland eintrafen, erzählten Menschen und Tiere noch lange Zeit über diesen ganz besonderen Moment, als sie das neugeborene Christkind im Stall in Bethlehem getroffen hatten.

Fotos ©: I Annalisa – Adobe, Josepperianes–Adobe