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Flucht mit Hunden: Sylvia Rech im Gespräch mit Familie Diulin

Der 24. Februar 2022 wird später wohl von Historikern als „Zeitenwende“ beschrieben werden. Der Tag, an dem Russland einen Krieg gegen sein „Bruderland“, die Ukraine, begann. Seitdem mussten viele Ukrainer ihr Land verlassen, um ihr Leben und das ihrer Haustiere zu retten. So auch die fünfköpfige Familie Diulin (Alexander und Yulia mit ihren beiden Söhnen Ilja und Daniel sowie deren Großmutter Tatjana), die seit dem 1. Juli 2022 unsere Nachbarn sind. Genau genommen ist es eine siebenköpfige Familie, denn sie machten sich mit ihren Hunden Dolly (Französische Bulldogge, 13 Jahre) und Busua (Chihuahua, 4 Jahre) gemeinsam auf den Weg nach Deutschland. Ich durfte die Familie mit Hilfe der Dolmetscherin Valentina Kropf über ihre Flucht zusammen mit ihren Hunden interviewen.

Wann habt ihr euch auf den Weg nach Deutschland gemacht? Wie haben sich eure Hunde auf der Fahrt verhalten, und wie lange wart ihr unterwegs?
Am 8. März 2022 schlug die erste Rakete in unserer direkten Nähe ein. Von diesem Tag an versteckten wir uns bis zum 24. März zusammen mit unseren Nachbarn im Keller. Da Dolly taub ist, ließen wir sie in unserer Wohnung und in ihrer gewohnten Umgebung. Wir nahmen nur Busua mit in den Keller, da sie sehr verstört und ständig am Bellen war. Während den kurzen Feuerpausen konnten wir schnell in unsere Wohnung gehen, um nach Dolly zu sehen, mit ihr Gassi zu gehen (nicht weiter als bis zum ersten Baum) und sie zu füttern. Busua konnte zum Glück im Keller auf ein Katzenklo gehen, das wir während den Feuerpausen dann immer gereinigt haben. Aus dem unteren Teil von PET-Flaschen haben wir einen Futter- und einen Wassernapf geschnitten, da die Näpfe noch oben in unserer Wohnung standen. Am 24. März wurde unser direktes Nachbarhaus bombardiert und alle Bewohner verschüttet. Da beschlossen wir, unser Land zu verlassen.
Vor unserem Haus befand sich eine Evakuierungsstelle. Von dort aus wurden wir mit Bussen und auf landwirtschaftlichen Anhängern der Bauern aus der Gefahrenzone gebracht. Es gab nur begrenzt Platz, deshalb mussten wir und andere Tierbesitzer die Entscheidung treffen, ob wir unsere Koffer oder lieber unsere Haustiere mitnehmen wollten. Bei größeren Hunden kam es zu Problemen, weswegen viele Hundebesitzer schweren Herzens ihr Tier zurücklassen mussten, aber hofften, dass sie sich irgendwie durchschlagen und überleben würden. Wir trugen unsere Hunde die ganze Zeit auf dem Arm. Tatjana hat Busua unter ihrer Jacke versteckt, damit wir noch ein weiteres Gepäckstück mitnehmen konnten.
Als am 1. Mai die ukrainische Armee die russischen Soldaten zurückgedrängt hatte, sahen wir für uns die Chance, unser Auto zu holen und uns unter hohem Risiko auf die viertägige Fahrt nach Deutschland zu machen. Beide Hunde verhielten sich während der Fahrt sehr ruhig. Dolly schläft ohnehin altersbedingt sehr viel, und Busua musste nicht mehr die lauten Explosionen ertragen, die sie so aufregten.

Wie verliefen die Grenzkontrollen bezüglich der Hunde? Habt ihr bestimmte Dokumente gebraucht?
Nein, wir haben keine Dokumente für die Hunde gebraucht. Wir hatten ihre Impfpässe auch nicht mit eingesteckt. Als wir in Litauen ankamen, wurden beide Hunde gechipt und geimpft. Leider konnten wir nicht nachweisen, dass sie schon geimpft waren, deshalb wurden sie dort noch einmal geimpft. Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass Litauen ein sehr tierfreundliches Land ist und man sich dort sehr um alte Tiere kümmert.

Musstet ihr auch Tiere zurücklassen?
Wir hatten in unserer Wohnung ein 120-Liter-Aquarium mit vielen Fischen. Darunter waren auch 8-jährige Skalare. Da wir keinen Strom und kein Wasser hatten, sind alle Fische bei - 18 Grad im gefrorenen Wasser leider verendet. Das war sehr traurig für uns. Wir haben das Aquarium-Wasser dann genutzt, um uns zu waschen, da die Wasserleitungen bei den Angriffen zerstört wurden.

Tieren sagt man oft einen siebten Sinn, eine Vorahnung, nach. Hat man euren Hunden schon vor dem nächsten Bombeneinschlag etwas angemerkt? Wurden sie unruhig, knurrten oder bellten sie?
(An dieser Stelle wird die Familie ganz still. Ich hatte für unser Interview einige Süßigkeiten und Getränke auf den Tisch gestellt. Yulia drückt dem kleinen Daniel einige Bonbons in die Hand und versucht ihn zu überreden, unseren Garten zu verlassen. Er soll die nächsten Sätze nicht hören.)
Wir hatten noch einen 16-jährigen Kater namens Tom. Er hat schon einige Zeit, bevor die Raketen und Bomben einschlugen, sehr laut geschrien. Seine Stimme hatte nicht den üblichen Ton, wie wir sie von ihm all die Jahre her kannten. Am 18. März blieb dann Toms Herz aufgrund der ganzen Aufregung stehen und er ist gestorben. Unserem fünfjährigen Sohn Daniel haben wir nichts davon erzählt. Er fragt viel nach Tom, und wir erklären ihm immer, dass Tom zuhause ist und auf unser Haus aufpasst.

Gibt es in der Ukraine viele Tierärzte und Tierkliniken?
Ja, es gibt Tierärzte und in den größeren Städten auch Tierkliniken. Die Behandlungen müssen privat bezahlt werden, da es Versicherungen für Hunde und Katzen, wie hier in Deutschland, nicht gibt. Die tierärztliche Versorgung ist sehr teuer.

Wie darf man sich ein Tierheim oder eine Tierauffangstation in der Ukraine vorstellen?
Es gibt keine staatlich eingerichteten Tierheime. Einige tierliebe Privatpersonen haben Organisationen gegründet und sammeln, z. B. über Facebook, Spendengelder, um die zahlreichen Straßenhunde und -katzen mit Futter zu versorgen. Es fehlt an Kastrationen, um dieses hohe Maß an Straßentieren zu reduzieren.
In jedem Ort ist einmal wöchentlich ein Markt, dort werden die Straßenhunde und -katzen von privaten Tierschützern gefüttert. Das wissen auch die Tiere, und sie warten bereits frühmorgens an der Fütterungsstelle.
Auch gibt es keine Veterinärämter oder Tierschutzgesetze. Vor dem Fall der Sowjetunion waren alle landwirtschaftlichen Betriebe verstaatlicht und den Nutztieren ging es sehr schlecht. Sie wurden misshandelt, verdursteten oder verhungerten. Mittlerweile hat ein großes Umdenken der Landwirte stattgefunden. Sie kümmern sich besser um ihre Tiere, da sie auch oft die einzige Einnahmequelle für die Bauern sind.

Existiert in der Ukraine der Beruf des Heilpraktikers bzw. des Tierheilpraktikers? Gibt es naturheilkundliche Behandlungen und komplementäre Medizin?
Wir kommen aus einer Stadt mit ca. 65.000 Einwohnern und haben noch nie etwas davon gehört. Aber es wäre denkbar, dass es so etwas in den größeren Städten, z. B. Kiew, gibt.

Yulia, was war dein Gedanke, als du unsere Kaninchenhaltung zum ersten Mal gesehen hast? Gibt es in der Ukraine die freie Wohnungshaltung oder die Haltung von Kaninchen in größeren Gehegen?
Ich dachte: „Oh, mein Gott, das ist ja ein Schloss für die Kaninchen!“ (lacht) Nein, eine solche Haltung kennen wir nicht in der Ukraine. Bei uns werden meistens große Kaninchen bis zu 10 kg gezüchtet, die nach etwa sechs Monaten dann geschlachtet werden.

Der Fleischkonsum in Deutschland nimmt stetig ab, ob nun aus gesundheitlichen oder aus tier-ethischen Gründen. Gibt es diesbezüglich auch einen Trend in der Ukraine?
Es gibt einige unter 20-Jährige, die auf Fleisch oder auch gänzlich auf tierische Produkte verzichten. Diese Bewegung steht jedoch erst ganz am Anfang und wird eher belächelt. Da Speck zu unseren Nationalspeisen gehört, ist es für fast alle Ukrainer undenkbar, kein Fleisch mehr zu essen. Denn Speck gehört zu jeder Feierlichkeit dazu.

Gibt es zu euren Hunden eine lustige Geschichte oder eine besondere Eigenart?
Busua frisst grundsätzlich nicht Futter aus dem Napf. Sie nimmt es raus und trägt es an einen anderen Platz, um es dort zu verspeisen, und verteidigt es mit allen Mitteln. Man darf ihr dann nicht zu nahe kommen.
Alexander hat Yulia die Französische Bulldogge Dolly nach ihrer Hochzeit geschenkt, und Dolly hat es geschafft, die komplette, neu eingerichtete Wohnung zu zerstören, als die beiden bei der Arbeit waren.
Auch Kater Tom hatte eine kriminelle Energie: Er stibitzte immer heimlich Essen und teilte es dann mit seinen Hunde-Schwestern Dolly und Busua.

Wo seht ihr euch in fünf Jahren?
Wir wollen in Ruhe und Frieden leben. Bald beginnt unser Deutschkurs, und dann geht es darum, Arbeit zu finden, eventuell später ein eigenes Häuschen hier zu kaufen. Aber für den Moment wünschen wir uns einfach nur Ruhe und Frieden!

SYLVIA RECH
TIERHEILPRAKTIKERIN

TÄTIGKEITSSCHWERPUNKTE
Tierhaltungsberatung, Tierheilkunde, spezialisiert auf Kaninchen und Meerschweinchen, Buchautorin

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Fotos ©: Diulin, stockphoto-graf– Adobe