Tauben: Über L(i)ebens(un)wertes Taubenleben und gegen Tierrassismus
„Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben macht keinen Unterschied zwischen höherem und niederem, wertvollerem und weniger wertvollem Leben. Sie hat ihre Gründe, dies zu unterlassen. Das Unternehmen, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen zu statuieren, läuft darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen, was ein ganz subjektiver Maßstab ist. Wer von uns weiß, was das andere Lebewesen an sich und in dem Weltganzen für eine Bedeutung hat? Dem wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig, auch das, was uns vom Menschenstandpunkt als tiefer stehend vorkommt.“
(Aus: Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, von Albert Schweitzer)
Den meisten Tierfreunden dürfte zu Ohren gekommen sein, dass der NABU (Naturschutzbund Deutschland) die Turteltaube zum „Vogel des Jahres 2020“ gewählt hat. Im Vorwort der aktuellen Herbstausgabe von „Naturschutz heute“ findet sich dieser Kommentar: „Endlich mal eine hüb sche Taube, und dazu noch das Symbol für Verliebte, für den Frieden, das gehe ja so zu Herzen.“
Bedeutet das, dass andere Taubenarten (weltweit über 300, davon 5 in Deutschland) etwa nicht hübsch seien? Auf die o. g. Symbolik besitzt jedenfalls weder die Turtel-, Ringel-, Hohl- oder Türkentaube noch sonst irgendeine einzelne Taubenrasse das Monopol. Das klassische Bild dieser Eigenschaften inklusive des Heiligen Geistes entspricht eher der uniweißen und nicht der Turteltaube, die ein vergleichsweise buntes Gefieder aufweist.
Dieser Artikel hingegen befasst sich primär mit der sog. Straßen- oder Stadttaube, die manchen Personen gar nicht so zu Herzen geht, sondern vielerorts getreten, bespuckt, beschimpft und verfolgt wird. Der Deutsche Tierschutzbund sowie diverse Stadttauben-Vereine versuchen mit Aufklärungsarbeit und bundesweiten Kampagnen wie z. B. „# Respekt Taube“ ein positives Gegengewicht zu setzen. Zwischen all den Taubenarten bestehen nur minimale genetische Unterschiede – aber der Kontrast, wie Menschen die eine oder andere einstufen und behandeln, könnte kaum größer sein. Spielt es denn für den Wert des Individuums eine Rolle, ob es von seiner Art in einem Land nur noch gut 20.000 Brutpaare oder Hunderttausende gibt? Stadttauben stammen meist von gestrandeten Brief- bzw. Wettflugtauben ab, deren Urform die Felsentaube darstellt. Bei manchen Exemplaren kann man eine Vermischung mit dem Erbgut entflogener Rasse- oder Ausstellungstauben erkennen, und gelegentlich gesellen sich auch auf cleanes Weiß gezüchtete Hochzeitstauben hinzu, die sich verirrt haben und nicht in der freien Natur überleben können.
Reines Menschenwerk, oft recht willkürlich festgesetzt anmutende Richtlinien und Kriterien bewirken, dass viele Tauben als „Ausschuss“ gelten und der Züchter-Selektion zum Opfer fallen, während gewisse Einzeltiere zu Preisen von mehreren Tausend oder gar Zehntausenden von Euro gehandelt werden. Eine, den meisten Laien eher hässlich anmutende Warzentaube (mit angezüchteten Wucherungen im Bereich von Augen- und Nasenhaut) gibt es für mehrere 100 bis 1.000 Euro aufwärts, und manche Ziertauben sind rein biologisch/anatomisch betrachtet verkrüppelt (nicht grundlos als „Qualzucht“ bezeichnet).
Uns Tierschützer, ob privat oder in einem Verein organisiert, interessiert (neben dem Grundanliegen, Leid zu lindern) vor allem das eigentliche Wesen, die Seele der Taube, unabhängig von Aussehen oder ihrem Marktwert. Bei uns zählen alle gleich, ob schwarz, grau, rotbraun oder weiß, ob verzüchtet oder durch Unfall oder Krankheit behindert.
In den Pflegevolieren dürfen Tiere, die anderswo kein Recht auf Existenz hätten, bei guter Lebensqualität ein größtmöglich artgerechtes Umfeld genießen. Ich persönlich sehe diese Arbeit auch als Forschungsprojekt an, denn wir erleben während unseren Langzeitbeobachtungen Phänomene, die den nur auf Erfolg und Ratio ausgerichteten und VersagerTieren ausmerzenden „Experten“ verborgen bleiben.
Wie schon die Weisen der Menschheitsgeschichte konstatierten, ist das vermeintlich Kranke nur das Gesunde in seiner Extremform, und indem wir uns mit behinderten Menschen und Tieren befassen, verstehen wir das „Normale“ und dessen Entwicklungspotenzial viel besser. Wo in der freien Natur oft ein rauer Überlebenskampf herrscht, entwickeln diese Vögel im geschützten Rahmen ein Sozialverhalten, das immer wieder über das übliche Maß hinausgeht. Ihre verblüffende Intelligenz und die Fähigkeit, sich mehr als jeder Wildvogel an Menschen zu binden, stellt vielleicht ihre beste Coping-Strategie zur Kompensation ihrer körperlichen Beeinträchtigungen dar.
Da gibt es z. B. eine blinde Taube, die einem einäugigen jungen Neuzugang den Weg zum Futternapf zeigt und es mit dem Köpfchen hineinstubst. Ein neurologisch behindertes Pärchen nimmt bereits halbwüchsige, schwer verwundete Pflegekinder auf, umsorgt und erzieht sie liebevoll.
Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie kreativ, und ohne mit ihrem Schicksal zu hadern, Tauben den Verlust eines Beines, eines Unterschnabels oder der Flugfähigkeit kompensieren, welchen Überlebenswillen auch schwer durch angeborene oder erworbene Gliedmaßenfehlstellungen oder neurologische Ausfälle gezeichnete Exemplare zeigen – und wie dankbar sie die Chance einer professionellen veterinärmedizinischen Behandlung und/oder einer behindertengerechten Unterbringung ergreifen. Vor allem aber: Welche Liebe sie geben und annehmen.
Kritiker, die meinen, es bedeute Tierquälerei, solche Invaliden am Leben zu erhalten, sollten erst einmal genau beobachten, wie unsere Schützlinge munter fressen, im Bad herumplantschen, balzen, schmusen und brüten (selbstverständlich nur gegen Gipsattrappen ausgetauschte Eier), und dabei nicht im mindesten unter etwaigen Depressionen oder gar schwachem Selbstwertgefühl zu leiden scheinen. Im Gegenteil: In einer mir wohlbekannten Pflegevoliere hält sich ein flugunfähiger Taubenherr gleich 3 Weibchen in seinem privaten Harem, während eine Lady ohne jegliche Beinfunktion, die sich ausschließlich mit Hilfe ihrer Flügel fortbewegen konnte, zahlreiche Verehrer hatte, die sie jedoch konsequent von sich pickte, weil sie lieber Single bleiben und mit ihrer besten Freundin kommunizieren wollte.
Auch sichtbar entstellte Tauben scheinen also für Artgenossen attraktiv zu sein. Was würde Charles Darwin wohl dazu sagen? Survival of the fittest? Der Wahrheit näherzukommen scheint Lamarck, der postulierte, dass sich letztendlich die Liebevollen durchsetzen würden (vgl. auch Die Bergpredigt). Vielleicht können die Menschen noch einiges von den Tauben und anderen Tieren lernen. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern weiterhin einen offenen Geist und ein ebensolches Herz.
Mehr Spannendes, Lustiges und Ernstes über diese intelligenten, liebenswerten und in menschlicher Obhut erstaunlich zahm werdenden Tiere, illustriert mit zahlreichen Bildern, findet sich in meinem Benefiz-Buch „Die Geringsten unter uns oder Tauben sind zum Küssen da“.
S. FAJIRON SCHÄFER
VERHALTENSFORSCHERIN
SchumacherGebler Dresden Verlag
ISBN 978-3941209695, 19,80 €
KONTAKT