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Serie: Trauma beim Hund - Traumafolgestörungen, Neuronale Faktoren

Teil 3

LEBENSLANGES LERNEN

Der Grundstein für die Entwicklung wird während der ersten Lebenswochen gelegt, obwohl das Gehirn zu dieser Zeit noch nicht vollständig entwickelt ist. Es sind zwar alle wichtigen Nervernverbindungen angelegt; damit sie aber auch ausgebildet werden können, müssen sie durch Erfahrungen aktiviert werden. Fehlt diese Aktivierung, kann es passieren, dass die jeweiligen Verbindungen abgebaut werden und für den Rest des Lebens nicht mehr zur Verfügung stehen. Ein Beispiel dafür ist ein Hund, der während der ersten Lebenswochen komplett im Dunkeln gehalten wird. Dauert dieser Zustand zu lange an, wird er blind bleiben, obwohl er organisch vollkommen gesund ist und eigentlich sehen könnte. Man spricht hier von Deprivationsschäden. Diese entstehen auch auf psychischer Ebene. Wenn ein Hund z.B. während seiner sensiblen Phase keinerlei Kontakt zu Menschen hat, dann wird er diese nie mehr als verlässlichen und wohlwollenden Sozialpartner abspeichern.
Vorhandene bzw. fehlende Erfahrungen während der Gehirnentwicklung geben zwar einen – in einigen Fällen sehr engen – Rahmen vor, bedeuten aber nicht, dass das Gehirn sich nicht verändern, neue Erfahrungen sammeln und speichern kann. Erfahrungen und Lernvorgänge werden als Verknüpfungen im Gehirn gespeichert. Je häufiger sich etwas wiederholt, desto aktiver und leistungsfähiger werden die entsprechenden Verknüpfungen. Jene, die selten oder überhaupt nie mehr aktiviert werden, werden immer schwächer und lösen sich irgendwann komplett auf bzw. werden inaktiv.

GEDÄCHTNIS

Im Gedächtnis werden Informationen und Wissensinhalte gespeichert. Diese Speicherfunktion ist die Grundvoraussetzung für jeden Lernprozess. Aufgenommene Informationen können nicht so gespeichert werden, wie sie sind, sondern müssen erst in eine dafür passende Form gebracht werden. Diesen Vorgang nennt man Encodieren von Informationen. Durch eine sinnvolle Strukturierung wird der spätere Abruf gespeicherter Informationen ermöglicht, es entsteht eine zentrale Organisation von Wissen und Fähigkeiten.

ARTEN DER SPEICHERUNG VON INFORMATIONEN

Alle Reize und Sinneseindrücke werden in elektrische Impulse umgewandelt und als solche weitergeleitet und verarbeitet. Verändert sich die elektrische Aktivität, so verändern sich auch die

  • biochemische Aktivität
  • Zellstruktur
  • Verbindungen zwischen den Neuronen

Nur durch diese Veränderungen ist Lernen möglich, denn es entstehen neue Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen, und alte, bestehende Verbindungen werden getrennt bzw. aufgelöst.
Für Informationen und Lernprozesse, die nur kurzfristig benötigt werden, ist eine kreisförmige Erregung zuständig. Sie bewegt sich so lange, bis die Information nicht mehr gebraucht wird. Kommt sie zum Stillstand, steht das Gelernte dem Tier nicht mehr zur Verfügung. Soll das Gelernte dauerhaft zur Verfügung stehen, werden alte Strukturen der Neuronen bzw. Neuronennetzwerke abgebaut und durch neue ersetzt. Diese strukturellen Veränderungen bleiben bestehen, die Information kann jederzeit abgerufen werden. Es entsteht ein Engramm. Darunter versteht man die Veränderung von Verbindungen zwischen Nervenzellen.

GEDÄCHTNISPROZESSE

Encodierung
Jede Information aus der Umwelt wird durch eine Art Code ersetzt. Dieser steht für die real existierende Umwelt bzw. für das zu speichernde Objekt. Der Sinn dieser Encodierung ist es, dass wichtige Punkte der Informationen jederzeit abrufbar sind. Durch die gespeicherten Informationen müssen Reaktionen auf bestimmte Reize nicht jedes Mal neu getestet bzw. herausgefunden werden, sondern der Hund kann auf alte Erfahrungen zurückgreifen und sich entsprechend verhalten. Dieser Mechanismus spielt bei der Entstehung und Therapie von Angst eine wichtige Rolle.

Speicherung
Nicht jede Information steht gleich lang zur Verfügung und nicht alle Informationen werden dauerhaft gespeichert. Für jede Information ist eine andere Region im Gehirn zuständig, und in dieser wird die Information unter einer entsprechenden „Rubrik“ abgelegt.

Abruf
Gespeichertes Wissen kann ständig präsent, schnell abrufbar sein oder nicht bewusst wahrgenommen werden, aber trotzdem vorhanden sein.

Zeitliche Aspekte der Speicherung
Inhalte und Informationen können unterschiedlich lange gespeichert werden:

  • sehr kurz (Sensorisches Gedächtnis)
  • für eine begrenzte Zeit (Arbeitsgedächtnis/ Kurzzeitgedächtnis)
  • sehr lang
  • lebenslang

SENSORISCHES GEDÄCHTNIS

Informationen werden nur sehr kurz behalten und können nach einiger Zeit nicht mehr abgerufen werden (Ultrakurzzeitgedächtnis). Die Speicherkapazität ist sehr gering, es können nur sehr wenige Bilder, Töne etc. gespeichert werden. Es wird immer das „Originalbild“ gespeichert, so wie es tatsächlich wahrgenommen wird. Es findet also noch keine Verarbeitung bzw. Codierung statt. Das Sensorische Gedächtnis bildet die Basis für die weitere Verarbeitung der Information im Kurzzeitgedächtnis und eventuell darüber hinaus, stellt damit das Verbindungsglied zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis dar.

KURZZEITGEDÄCHTNIS

Sinneseindrücke können zwischen mehreren Sekunden bis hin zu einigen Minuten gespeichert werden. Die aufgenommenen Informationen werden verschlüsselt (codiert) und bleiben nicht in ihrer ursprünglichen Version erhalten. Auch hier werden kurze, vollständige Sinneseindrücke gespeichert. Werden Informationen nicht lange gebraucht, werden sie „zwischengelagert“ und anschließend wieder vergessen, wenn sie nicht weiterverarbeitet bzw. wiederholt oder miteinander verknüpft und in das Langzeitgedächtnis übertragen werden.

LANGZEITGEDÄCHTNIS

Damit Informationen langfristig bzw. dauerhaft zur Verfügung stehen können, ist es nötig, sie immer wieder zu wiederholen. Die Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses werden somit weiterverarbeitet und an das Langzeitgedächtnis übergeben. Auch hier werden die Informationen in einer bearbeiteten, codierten Version gespeichert. Die Speicherkapazität des Langzeitgedächtnisses ist praktisch unbegrenzt. Wenn man es genau nimmt, können Informationen, die einmal dort gespeichert wurden, nicht wieder vergessen werden. Alle Informationen sind allerdings nicht dauerhaft präsent, sondern müssen bei Bedarf abgerufen werden. So kann man beobachten, dass einige Dinge bzw. Ereignisse, die sehr lange zurückliegen, nur scheinbar vergessen wurden. Sie sind nicht wirklich vergessen, sondern es fällt dem Individuum nur im Moment sehr schwer, sie wieder abzurufen und verfügbar zu machen.

GEDÄCHTNISSYSTEME

Referenzgedächtnis
Die Inhalte dieses Gedächtnisses bleiben über einen längeren Zeitraum erhalten. Es werden nicht exakte einzelne Punkte bzw. Objekte gespeichert, sondern eine bestimmte Richtung bzw. eine ungefähre Position. Dieses System ist u.a. dafür verantwortlich, dass ein Hund befürchtet, es könne in einer bestimmten Umgebung Gefahr drohen bzw. diese könne aus einer bestimmten Richtung kommen.

Prozedurales Gedächtnis
In diesem werden komplette motorische Programme oder feste routinemäßige Abläufe gespeichert. Es handelt sich z.B. um Fähigkeiten wie Laufen, Klettern oder Balancieren. Am Anfang ist es mühsam, das gewünschte Verhalten zu erlernen, und man muss bewusst jeden einzelnen Schritt mehrmals wiederholen. Wenn man jeden Step sicher beherrscht, müssen alle Einzelteile zu einem komplexen Ablauf zusammengesetzt werden. Auch das erfordert Übung und viele Wiederholungen. Wenn ein Verhalten einmal gelernt wurde und flüssig beherrscht wird, dann wird es zur Routine, die praktisch nie mehr ganz vergessen werden kann. Es ist dann auch nicht mehr nötig, jeden Schritt bewusst auszuführen, denn das Verhalten läuft automatisch ab und die einzelnen Vorgänge werden nicht mehr bewusst gesteuert. Sie werden also implizit ausgeführt. Genauso wie ein Hund z.B. das Balancieren über ein Agility-Hindernis lernen kann, so kann er auch bestimmte Bewegungsabläufe als Reaktion auf einen angstauslösenden Reiz erlernen. Dieses Verhalten generalisiert er mit jeder erneuten Wiederholung, sodass es schnell, automatisch und ohne bewusste Steuerung abläuft.

LERNPROZESSE

Lernen ist kein starrer Ablauf, der immer nach demselben Schema oder in derselben Zeit abläuft.

Wichtige Kriterien für den Ablauf von Lernprozessen sind

  • Art der Reize bzw. Art der Darbietung der Reize
  • zeitlicher Verlauf der Reize bzw. deren Wiederholungen
  • Stabilität der gelernten Information
  • der Kontext, in dem die Reize dargeboten werden
  • Art und Anzahl der am Lernprozess beteiligten neuronalen Strukturen

Lernen braucht Zeit

Um ein altes Verhalten abzulegen und ein neues Verhalten zu zeigen, müssen alte Verknüpfungen im Gehirn gelöscht und neue aufgebaut werden. Das geht nicht innerhalb weniger Minuten oder Stunden.

Beispiel aus der Menschenwelt

Eine Frau macht sich morgens immer in folgender Reihenfolge fertig: Anziehen, Zähneputzen, Make-up, Haare. Wenn ihr jetzt gesagt wird, sie soll sich ab sofort immer als Erstes die Zähne putzen, dann Make-up und Haare machen und sich als Letztes anziehen, wird sie selbstverständlich sagen, dass das kein Problem ist. Sie wird sich aber mindestens 4 Wochen lang immer wieder dabei ertappen, dass sie in ihre alte Gewohnheit zurückfällt, angezogen im Bad steht und sich dann erst die Zähne putzt. Bei diesem Beispiel sind noch keine Emotionen im Spiel, und das Verhalten bzw. die Änderung der Reihenfolge hat keinerlei Auswirkung auf das Ziel der Handlung, nämlich das Haus verlassen zu können.

Wenn es sich jetzt um ein Problemverhalten unserer Hunde, z.B. Angst vor einem oder mehreren Umweltreizen, handelt, die mit einem traumatischen Erlebnis in Verbindung gebracht werden, müssen hierbei nicht nur „Umbaumaßnahmen“ im Gehirn stattfinden, sondern auch ein langfristiger Zeitraum berücksichtigt werden, da sich das Training durch beteiligte negative Emotionen langwieriger und schwierig gestaltet. Der Grund dafür ist, dass Gefühle immer mitgelernt werden müssen, und das kann durch nichts beeinflusst oder gesteuert werden. Das Lernen von Gefühlen ist dem Hund nicht bewusst, sondern passiert automatisch.

Neurobiologische Belege

Besonders die Zellen im Hippocampus und im Limbischen System können sehr gut durch Lernvorgänge verändert werden. Die Synapsen der Großhirnrinde können sich – wenn auch langsamer – neu verknüpfen und alte Verbindungen aufgeben.

Bildung und Festigung (Konsolidierung) einer Gedächtnisspur

Unter einer Gedächtnisspur versteht man ein strukturelles Engramm. Dieses ist die Grundlage jedes Lernvorganges und jeder Art von Gedächtnisbildung, steht aber sowohl zeitlich als auch räumlich betrachtet nur für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung. Werden die Gedächtnisspuren als regelmäßige Muster mehrmals wiederholt, so werden die betroffenen Synapsen umso leistungsfähiger, je öfter das Muster sich wiederholt. Haben genügend Wiederholungen stattgefunden, kann das Muster als Gedächtnisbaustein dauerhaft gespeichert werden und ist jederzeit abrufbar. Diesen Prozess machen wir uns beim Aufbau erwünschter Verhaltensweisen zunutze und trainieren durch unzählige Wiederholungen, damit ein Verhalten sich festigt und zuverlässig gezeigt werden kann. Genauso läuft es im unerwünschten Fall ab. Wenn ein Hund z.B. viele schlimme Erfahrungen machen musste, hat er auch dieses Muster dauerhaft gespeichert. Je häufiger ein Muster wiederholt wurde, desto löschungsresistenter wird es. Das bedeutet, dass die Zeit, die wir brauchen, um einen Hund seine Angst vor etwas verlieren zu lassen, maßgeblich davon abhängt, wie häufig er durch das betreffende Objekt schon in Angst versetzt wurde und es als angstauslösend abgespeichert hat bzw. wie schlimm das Erlebnis/der Auslösereiz für ihn war.

DAS TRAUMAGEDÄCHTNIS

Es besteht ein großer Unterschied in der Speicherung von Informationen zwischen der Konsolidierung einer Gedächtnisspur im „normalen“ Gedächtnis, dem expliziten Gedächtnis, und dem Traumagedächtnis, dem impliziten Gedächtnis.

Explizites Gedächtnis
Die Erinnerungen, die hier gespeichert sind, können jederzeit bewusst und aktiv abgerufen, auch unterbrochen werden. Alle aufgenommenen Reize und Erfahrungen werden langsam verarbeitet, es wird ein klarer Anfang und ein eindeutiges Ende wahrgenommen. Der Hund ist in der Lage, aus seinen Erfahrungen zu lernen und sich in vergleichbaren Situationen bewusst für oder gegen eine bestimmte Verhaltensstrategie zu entscheiden bzw. sein Verhalten der Situation jeweils entsprechend anzupassen.

Traumagedächtnis
Erinnerungen können weder bewusst abgerufen noch beendet werden, sondern werden automatisch durch verschiedene Trigger ausgelöst. Der Hund wird von den Erinnerungen und allen damit verbundenen negativen Gefühlen überflutet und kann sich weder dagegen wehren noch die Situation im Hier und Jetzt bewerten. Da das Gehirn in diesen Situationen nicht zwischen „Jetzt“ und „Früher“ unterscheidet, kann der Hund nichts aus seinen Erfahrungen bzw. Erinnerungen lernen, denn er erlebt das Trauma mit jedem Trigger noch einmal, sodass das Vegetative Nervensystem automatisch auf Schockmodus umschaltet, in dem es darum geht, die Situation irgendwie zu überleben.

In der nächsten Ausgabe behandeln wir die verschiedenen Angstformen.

ALEXANDRA HOFFMANN
HEILPRAKTIKERIN FÜR PSYCHOTHERAPIE

TÄTIGKEITSSCHWERPUNKTE
Bach-Blütentherapie, Homöopathie, Tier- und Humanpsychologie, Dozentin an den Paracelsus Schulen

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