Diagnose verzweifelt gesucht: Das Schicksal von Wallach Dundee
Eines späten Abends sehe ich eine Besitzerin ihr Pferd von der Tag- und Nachtweide in den Stall führen. Dem 24-jährigen Wallach tropfen Speichel und Speisebrei aus Maul und Nüstern, was die Besitzerin sehr beunruhigt. Eine Schlundverstopfung, beruhige ich sie, das lässt sich vom Tierarzt recht unkompliziert beheben. Sie soll bloß darauf achten, dass der Tierarzt den Schlauch zum Einführen in die Speiseröhre in warmem Wasser geschmeidiger macht und den Wallach zur Not leicht sediert, damit es bei starker Gegenwehr nicht zu Verletzungen kommt.
Der erste Tierarztbesuch
Ich warte das Eintreffen des Tierarztes ab, sehe, wie er den Schlauch einweicht, sauberes Wasser und Trichter bereitstellt und (nach mehreren vergeblichen Versuchen, das Pferd mit der Nasenbremse am Steigen zu hindern) schließlich ein Sedativum spritzt. Der Wallach wird ruhig und die Schlundspülung beginnt, wobei der Tierarzt den Schlauch immer und immer wieder weit herausziehen muss, um den Speisebrei abfließen zu lassen. Sogleich versenkt er dann den Schlauch wieder mit viel mechanischer Kraft in der Speiseröhre. Nach einer Stunde muss ich das Szenario verlassen, weil ich noch einen Termin habe. Am nächsten Tag höre ich, dass der Tierarzt insgesamt 4 Stunden mit der Schlundverstopfung beschäftigt war, weil diese wohl bis „kurz vor den Mageneingang“ ging. Der Wallach habe anschließend aus Maul und Nüstern geblutet, aber nicht in erhöhtem Maße. Allerdings sei er heute schlapp, ablehnend der Besitzerin gegenüber und huste. Ich gebe Nux Vomica („von allem zu viel“, Stress, Husten, Ausleitung, Sedierung) und Natrium chloratum (zum Auflösen der schlechten Erfahrung und der Enttäuschung durch die Besitzerin als „Mittäterin“ bei seiner – von ihm sicherlich so empfundenen – Folter) jeweils in einer C200. Für die nächsten Tage bitte ich sie, Arnica in einer Tiefpotenz (Traumata durch stumpfe Gegenstände, Prellung, Hämatom, Wundinfektion, Schock, Schmerzen, Schwellung) in der Apotheke zu besorgen.
2 Tage nach dem Tierarztbesuch
Die Besitzerin kommt erneut von der Weide zum Stall und stellt ihr Pferd für die Nacht in einer Box unter. Der Wallach sei schlapp, die Hinterbeine brächen ihm weg, er habe einen Gang wie ein Betrunkener, die Herde (5 weitere Pferde auf besagter Weide) hat sich von ihm abgewandt. Am nächsten Tag steht der Wallach wieder auf der Weide. Ich fahre extra hin, um nach ihm zu sehen. Der Kopf hängt, das Fressen fällt ihm schwer, er mümmelt nur. Ich beobachte einen als durchaus dramatisch zu bezeichnenden Muskelabbau während der letzten Tage. Außerdem hat er einen stinkenden, klebrigen, gelben Ausfluss aus den Nüstern: Geruch und Konsistenz wie frisch aufgeplatzte Furunkel. Die Besitzerin meint allerdings, es ginge ihm inzwischen schon wieder besser als die Tage davor. Die Besitzer, die ihr Pferd auf der gleichen Weide stehen haben, geben sich auf Nachfrage wenig besorgt.
4 Tage nach dem Tierarztbesuch
Wieder 2 Tage später wird erneut der Tierarzt gerufen. Laut Auskunft der Patientenbesitzerin ist der ratlos. Er nimmt Blut ab und teilt per Telefon „schlechte Leberwerte“ mit, ansonsten keinen Befund. Ich bitte die Besitzerin eindringlich, sich das Blutbild per E-Mail senden zu lassen, damit ich darin „lesen“ kann. Leider hat sie es nie erhalten.
Und wenn er nun das Pferd innerlich verletzt hat, mutmaßen einige andere Pferdebesitzer. Eine Speiseröhrenruptur vielleicht. Eine Entzündung im Raum des Mediastinums. Dann müsste es ja einen Indikator (Anämie, Thrombozytopenie etc.) im Blut gegeben haben. Davon hat der Tierarzt aber nicht gesprochen. Lungenentzündung durch die Schlundbehandlung (Aspirationspneumonie) entfällt auch, denn der Wallach hustet nicht mehr, hat kein Fieber, und auch hier gibt es laut Tierarzt keinen Indikator im Blut. Die Lunge ist frei und die eitrige Atemluft scheint dem Tierarzt keine Sorgen bereitet zu haben. Ich verwerfe also zunächst meine Bedenken hinsichtlich Folgeerkrankungen der Schlundverstopfung und fahre zur Weide, um diese nach Bergahorn, verpilztem Laub oder Ähnlichem abzusuchen.
Mögliche Krankheitsbilder
Mir schwirrt die atypische Weidemyopathie im Kopf herum. Es handelt sich dabei um eine saisonal auftretende Muskelerkrankung in den Monaten Oktober bis Dezember, der nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen die Aufnahme von reifen Ahornsamen (genauer: Bergahorn) auf der Weide zugrunde liegen könnte. In anderen Studien wurde das letale Toxin eines Bakteriums (Clostridium sordelli) für die Erkrankung verantwortlich gemacht (Unger-Torroledo, 2010). Zu Beginn der kalten Jahreszeit, insbesondere bei hoher Luftfeuchte, Wind und nächtlichen Temperaturen unter 8°C, fallen die Samen auf den Grund der Weide und werden mit dem Weidegras zusammen aufgenommen. Diese Toxine führen zu einer Schädigung des mitochondrialen Fettsäure-Energiestoffwechsels in der Muskelzelle. Die Zellen gehen zugrunde und die daraus freiwerdenden Substanzen sind klinisch und labordiagnostisch nachweisbar. Weitere Anzeichen sind eine erhöhte Herzfrequenz bei normaler Körpertemperatur, gerötete Schleimhäute, Schwäche, Apathie mit hängendem Kopf und nachfolgenden Ödemen im Kopf, Zittern, Steifheit bis hin zum Festliegen und Tod der Pferde. Einige Pferde zeigen zusätzlich Kolik-Symptome. Nahrungsverweigerung konnte ebenso beobachtet werden wie ungestörter Appetit.
Die meisten Pferde, bei denen die atypische Weidemyopathie nachgewiesen werden konnte, befanden sich zwischen 6 und 24 Stunden täglich auf einer Weide mit Baumbestand bzw. am Waldrand und waren in einer normalen Körperkondition.
Ich suche auf der Weide herum, dann am angrenzenden Waldrand und kann nichts finden. Zufällig sehe ich den erkrankten Wallach beim Urinieren: grellgelber Strahl. Bei der atypischen Weidemyopathie ist den meisten Pferden gemein, dass sie bräunlich-roten bis hin zu kaffee-farbenem Urin ausscheiden. Die Ursache dafür ist im Untergang der Muskelzellen zu sehen. Der freiwerdende „Muskelfarbstoff“ Myoglobin wird über die Niere ausgeschieden und färbt den Urin. Ich verwerfe die Theorie der atypischen Weidemyopathie zunächst wieder.
Es geht dem Wallach weiterhin schlecht und an einer Schlundruptur, einer unbehandelten Lungenentzündung oder auch an einer atypischen Weidemyopathie müsste er inzwischen längst verstorben sein.
An was leidet der Wallach?
Ein Gespräch mit der Besitzerin (eine Anamnese findet nicht statt, denn ich wurde nicht konsultiert, so stelle ich zwischen Tür und Angel immer wieder Fragen) ergibt, dass bei ihm vor 2 Jahren „Cushing“ diagnostiziert wurde. Da muss es ihm ebenfalls sehr, sehr schlecht gegangen sein. Aha! Vielleicht haben wir es hier mit einem durch Stress ausgelösten Cushing-Schub zu tun? Nun ist dieser Wallach feingliedrig, schlank und eher feurig – alles andere als das dickliche, lockige Cushing-Pferd, das einem sofort in den Sinn kommt. Aber Cushing hat viele Gesichter: Muskelabbau und Abmagerung, Apathie, wiederkehrende infektiöse Erkrankungen wie Zahnund Kieferhöhlenvereiterung (durch das geschwächte Immunsystem), Futterverweigerung und natürlich Hufrehe (wir erinnern uns an den taumeligen Gang). Alle diese Symptome passen auf den Wallach. Ein ACTH-Test wurde vom Tierarzt meines Wissens nach leider nicht durchgeführt, aber die festgestellten „schlechten Leberwerte“ passen auch: So ist bei Cushing-Patienten regelmäßig die Blutglukose erhöht; auch Triglyceride und Leberwerte liegen oft oberhalb des Referenzbereiches. Die symptomatische Polydipsie und Polyurie bleiben bei Pferden in Weidehaltung meist unbemerkt.
An diesem Abend wird der Wallach wieder in eine Box gebracht. Den Weg von der Weide zum Stall hat er fast nicht mehr geschafft. Mit hängendem Kopf und wackeligen Beinen steht er nun da. Die Besitzerin entscheidet, am nächsten Tag erneut den Tierarzt zu rufen. Ich bitte sie, dem Wallach auch helfen zu dürfen und sie willigt ein. Ich ziehe mir Handschuhe über und greife mir einen der Äppel. Die äußere Beschaffenheit ist klein, sehr dunkel, sehr fest. Es scheint, als sei der Kotball mit einem dunklen, eingedickten Mucus überzogen, das Innere sehr fein zerkleinert und bröselig. Der Wallach dehydriert langsam.
Ein trauriger Anblick
Am nächsten Morgen bietet sich ein trauriger Anblick. Er liegt mit dem Hals auf der Stalltüre, der gelbe Eiter läuft ihm aus der Nase, die Schleimhäute sind hell, der Atem ist flach, er trinkt und frisst nicht. Nur als die Besitzerin kommt und nach ihm pfeift, hebt er den Kopf und ruft nach ihr. Die beiden verbindet ein enges Band.
Die Schleimhäute wechseln zwischen feuerrot und weiß. Ich versuche einen Kollaps abzuwenden und gebe – unter Erwägung aller Möglichkeiten, ohne Anamnese und Diagnose – BelladonnaCH (Vergiftung durch Pflanzen, plötzliches Fieber, trockener Mund/aber trinkt nicht, Schwitzen, Halsschmerzen, Entzündungen der Atemorgane, Rötungen, Schwellungen, Blähbauch, Koliken, Hufrehe etc.) alle 2 Stunden und Arsenicum Album C30 („kann nicht schlucken“, Vergiftung, Erschöpfung, starker Kräfteverfall, körperliche Schwäche, Kollaps, schwere Infektionen von Gewebe) als Doppelgabe, dazu die Bach-Blüte Olive (große körperliche und seelische Erschöpfung), stündlich 1 Tropfen, eingerieben in das Stirnchakra. In das Trinkwasser geben wir Kamillekonzentrat, aber er will schon gar nicht mehr trinken. Ich tauche die Hände ins Kamillenwasser und verteile es auf das sehr trockene Maul und Zahnfleisch. An seinen Zähnen klebt zentimeterdick Speisebrei. Abwechselnd halten wir den Kopf des Wallachs, lagern ihn auf der Hüfte, so, als würde man ein Kleinkind halten. Noch kämpft er und wir sprechen ihm aufmunternde Worte zu. Der Gestank der abgesonderten Sekrete ist überwältigend. Meine Jacke ist voll von Rotz, Schweiß, Eiter und einem Bakteriengeruch wie bei Karies. Meine Hände kleben.
Erneuter Tierarztbesuch
Für Mittag ist der Tierarzt bestellt. Ich verlasse Pferd und Besitzerin kurz, um zu Hause zu recherchieren. Ich suche das Internet ab, lese von ähnlichen Fällen auch in England und Amerika, erfahre, wie man dort mit solch einer Situation umgeht. Als ich zurück in den Stall komme, hängt der Wallach an einer 0,9%-igen NaCl-Lösung, 10 Liter. Der Tierarzt hat Schmerzmittel und Antibiotikum gegeben. Er tippt nun doch auf eine innere Verletzung an Speiseröhre oder Magenwand („Dann kann man aber ohnehin nichts machen, wenn alles in die Brust läuft.“) oder Aspirationspneumonie. Die Temperatur liegt bei über 39 Grad Celsius. Natürlich schlägt er vor, den Wallach in eine Klinik zu bringen. Dafür will er ihn „fit spritzen“. In Wirklichkeit jedoch ist das Pferd vollkommen transportunfähig und dementsprechend lehnt die Besitzerin ab. Der Tierarzt hat noch Blut abgenommen, das bräunlich und sehr dick war. Die Ergebnisse will er später durchgeben. 3 Stunden später ist erst ein gutes Drittel der Kochsalzlösung durchgelaufen und die Werte vom Tierarzt sind immer noch nicht da. Mehr noch: Er hatte noch gar nicht die Zeit, das Blut ins Labor zu bringen … Obwohl der Stallbesitzer den Tropf deutlich schneller dreht, geht es dem Wallach zusehends schlechter. Immer noch halten wir seinen Kopf und muntern ihn auf. Inzwischen sind gut 7 Liter Tropf durchgelaufen und er schwitzt nun an mehreren Stellen. Zusätzlich rinnt eine klare Flüssigkeit von den Hautfalten oberhalb des linken Ellenbogens am Vorderbein hinunter. Es stinkt bestialisch. Später werde ich feststellen, dass wir es hier schon mit einer Lymphorrhoe zu tun hatten: Die Lymphe sickert durch die Poren, weil sie keinen Transportweg im Körper findet, der fast zum Stillstand gekommen ist. Die Lymphe an sich ist geruchlos, allerdings siedeln sich sofort Bakterien an und so kommt es zum Gestank. Das Risiko einer Sekundärinfektion steigt noch einmal beträchtlich. Der Bauch ist zum Platzen gepannt.
Das nahende Ende
Wir versuchen es erneut mit Futter und beobachten, wie er den Hafer aufnimmt, darauf herumkaut und ihn dann wieder aus dem Maul fallen lässt. Er schluckt nicht mehr. Und jetzt beginnt ein eigenartiges Phänomen: Er streckt den Hals nach unten, legt den Kopf schief und sperrt das Maul, beinahe, als würde er überlang gähnen, weil er unglaublich müde ist. Er wiederholt dieses Verhalten jetzt ständig. Aber es ist kein Gähnen, es ist instinktive Kommunikation, eine Bittgebärde, ein Zeichen für Stress, Hunger und Schmerz. Als ich das nächste Mal seinen Kopf halte, ist er plötzlich ganz leicht. Die Besitzerin entscheidet, ihn vom Tropf zu nehmen, damit er sich legen kann – aber er legt sich nicht. Der Wallach weiß genau, dass er dann nie wieder aufstehen wird. So halte ich ihn zum letzten Mal, als seine Besitzerin den Tierarzt anruft und für ihn um Euthanasie bittet. Als sie außer Sichtweite ist, kollabiert er mir fast. Auf mein gebrülltes „STEH!“ rappelt er sich wieder hoch. Er war ein großer Kämpfer. Der Tierarzt konnte ihn sogar noch aus der Box führen. Ich war nicht dabei, habe aber gehört, dass der Tierarzt nun endlich das Blut ausgewertet hatte. Es sei ein Wunder, dass der Wallach überhaupt noch auf seinen Beinen stehen konnte, hat er wohl gesagt.
Da ich keinen Zugang zu seinen Unterlagen habe, werde ich nie auch nur ansatzweise erfahren, was ihn letztlich sein Leben gekostet hat. War es wirklich eine Schlundruptur? War die Magenwand durchstoßen? Hätte man ihm dann nicht schneller und besser helfen können?
Dringender Rat
Ich möchte allen Patientenbesitzern raten: Nehmen Sie die tierärztlichen Unterlagen Ihrer Tiere an sich. Wenn Sie ein Blutbild bezahlen, lassen Sie sich einen Ausdruck geben. Das ist Ihr gutes Recht. Wenn Sie einen Tierheilpraktiker oder einen zweiten Tierarzt hinzuziehen möchten, ist es gut, wenn es Unterlagen gibt, mit denen man arbeiten kann. Warten Sie nicht zu lange, wenn es Ihrem Tier schlecht geht. Wenn Ihnen die Meinung des Tierarztes nicht schlüssig erscheint, holen Sie sich eine zweite Meinung ein. Vertrauen Sie Ihrem Instinkt: Sie wissen am besten, wie es Ihrem Tier geht. Lassen Sie sich nicht beirren.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Rat an Ihre Patientenbesitzer weiterzuleiten.
ANJA TERJUNG
TIERHEILPRAKTIKERIN
EIGENE PRAXIS IN KÖLN
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