Warum tut er das?! Hundeverhalten verstehen - Teil 1
Während der Evolution bzw. der Entwicklungsgeschichte einer Tierart geht es darum, Verhaltensmuster zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, die das Überleben der Art sicherstellen.
SURVIVAL OF THE FITTEST
Verhalten wird nach denselben Prinzipien vererbt wie z.B. die Fellfarbe. Träger der Erbinformationen sind einzelne Gene, die bei der Fortpflanzung weitergegeben werden. Hierbei kommt es bei der geschlechtlichen Fortpflanzung zu Neukombinationen und dadurch zu Individuen, die sich in ihrem Verhalten voneinander unterscheiden.
Nach dem Prinzip „Survival of the fittest“ überleben die Tiere am längsten, die am besten an die herrschenden Umweltbedingungen angepasst sind. Sie haben die besten Überlebenschancen und leben lange genug, um sich zu paaren und ihren Nachwuchs erfolgreich großzuziehen. Je mehr Nachkommen ein Tier hat, desto häufiger werden seine Gene an die Nachwelt weitergegeben und desto größer ist die Chance, dass ein Verhalten von vielen Tieren gezeigt wird.
Angst z.B. ist überlebenswichtig. Sie wird deshalb von Generation zu Generation weitervererbt und kann somit als evolutionsstabil bezeichnet werden.
Ein Hund, der sich in gnadenloser Selbstüberschätzung mit einem Bären anlegt, wird diesen Kampf nicht überleben und seine „Mutgene“ deshalb auch nicht weitervererben, da er nicht lange genug gelebt hat, um sich fortzupflanzen. Dieses Verhalten ist nicht evolutionsstabil und wird im Verlauf der Evolution aufgegeben.
Nach demselben Prinzip entwickeln sich alle Symptome, die infolge eines traumatischen Erlebnisses gezeigt werden. Primär geht es dem Hund ums Überleben, und hierfür greift er auf die ihm „in die Wiege gelegten“ Verhaltensmuster zurück. Führen diese zum Erfolg, überlebt er, wird sie beibehalten und sie beim nächsten Mal früher und mit größerer Intensität zeigen.
Da die alte Streitfrage „Nature or Nurture“ eindeutig zugunsten der Umwelt- und Lernerfahrungen ausfällt, die immer mehr Einfluss haben, je älter der Hund wird und je mehr Erfahrungen er in seinem Leben gemacht hat, können die Gene nur als Rahmen betrachtet werden, innerhalb dessen sich das Verhalten entwickelt. Ein Hund ohne Flügel wird sicher niemals fliegen lernen. Verhaltensmuster wie eine panische Flucht können aber sehr wohl durch Lernprozesse beeinflusst und verändert werden.
DIE ROLLE VON GEFÜHLEN WÄHREND DER ENTWICKLUNG VON VERHALTEN
Gefühle sind an allen Lebenssituationen maßgeblich beteiligt und können weder verhindert noch bewusst beeinflusst werden. Auch werden bei jeder Situation Gefühle automatisch mitgelernt und mit allen in dieser Situation wahrgenommenen Reizen verknüpft. Diese Verknüpfung kann positiv, negativ oder neutral sein. Diese Tatsache ist sehr wichtig, denn ohne Gefühle wie z.B. Angst könnte kein Hund überleben. Auch positive Gefühle von Geborgenheit und Zuneigung sind essenziell wichtig. Da Gefühle einerseits unbewusst und reflexartig ausgelöst werden, gehen sie dem eigentlichen Verhalten voraus und können eine große Hilfe sein, wenn es darum geht, eine Situation als gefährlich oder ungefährlich einzuschätzen. Da negative Gefühle sehr unangenehm sind und auf Dauer auch gesundheitsschädlich sein können, ist das Ziel jedes Verhaltens bzw. jeder Reaktion, die negative Situation schnellstmöglich zu beenden, um wieder positive Gefühle empfinden zu können.
SYMPATHIKUS VERSUS PARASYMPATHIKUS
Ob ein Gefühl als positiv oder negativ bewertet wird, wird durch die Aktivität bzw. Inaktivität des vegetativen, autonomen Nervensystems beeinflusst. Die beiden Hauptakteure in diesem System sind die Gegenspieler Sympathikus und Parasympathikus. Ersterer ist für alle aufregenden Situationen, letzterer für Ruhe und Entspannung zuständig. In stressigen Momenten wird der Sympathikus aktiviert, der den Körper in Alarmbereitschaft versetzt und sofort die nötige Energie für eine Notfallreaktion zur Verfügung stellt (hierzu zählen erhöhter Herzschlag, erhöhter Blutdruck, beschleunigte Atmung, vermehrte Durchblutung aller Organe und Muskeln, Ausschüttung von Stresshormonen). In Situationen, in denen der Hund sich nicht bedroht fühlt, kann er sich entspannen und der Parasympathikus wird aktiviert. Er bringt die Werte und den gesamten Organismus wieder in den Ruhezustand zurück.
NEUROLOGISCHE GRUNDLAGEN
Damit der Hund auf seine Umwelt reagieren kann, muss er diese wahrnehmen. Alles, was um ihn herum passiert, trifft als Information in Form von Reizen auf ihn ein. Ein Reiz ist eine Veränderung, die entweder im Inneren des Körpers oder in der Umwelt stattfindet. Der Reiz aktiviert bestimmte Nervenzellen und löst dadurch Erregungen aus.
Reize können verschiedene Qualitäten haben:
- chemisch
- mechanisch
- optisch
Ein Organismus, der nicht in der Lage ist, auf Reize zu reagieren, ist nicht überlebensfähig. Nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Pflanzen können auf Reize reagieren und sich somit ihrer Umwelt und ihren Lebensbedingungen anpassen.
Nicht weiterverarbeitete Reize
Reize, die zu gering sind, um wahrgenommen zu werden, werden nicht weiterverarbeitet. Man spricht hier von unterschwelligen Reizen. Betrachtet man z.B. das Aktionspotenzial, könnte man auch sagen, dass der Reiz zu gering war, um eine Membran zum Kippen zu bringen. Fehlt dem Organismus die Fähigkeit, eine bestimmte Art von Reizen zu verarbeiten, erfolgt keine Reaktion darauf. Gemäß den Gesetzen der selektiven Wahrnehmung konzentriert sich das Individuum nur auf bestimmte Reize, die es umgibt, alle anderen werden ignoriert. Die, die nicht im Zentrum der Wahrnehmung stehen, werden nicht weiterverarbeitet.
EXKURS IN DIE WAHRNEHMUNGSPSYCHOLOGIE
Damit etwas gelernt und gespeichert werden kann, ist es unbedingt vonnöten, dass es wahrgenommen wird. Alles, was nicht wahrgenommen wird, kann nicht in den Lernprozess einbezogen werden. Das, was ein Individuum wahrnimmt, ist niemals dasselbe, das ein anderes Individuum wahrnimmt, selbst wenn beide dasselbe sehen. Wahrnehmung ist immer subjektiv, da jedes Individuum das, was es wahrnimmt, individuell bewertet und sich die für ihn relevanten Reize aus dem Angebot auswählt. Niemand kann wissen, wie sein Gegenüber das, was er gerade selbst wahrnimmt, sieht, bewertet etc. Da jedes Lebewesen individuell aus allen zur Verfügung stehenden Reizen auswählt, ist die Reichweite des Erlebens für jedes Individuum stark eingeschränkt. Jedes Individuum verfügt nur über einen sehr beschränkten Wahrnehmungshorizont. Ein weiterer Aspekt ist, dass Wahrnehmung ein aktiver Vorgang ist und keine einfache Abbildung der Wirklichkeit auf der Netzhaut bzw. dem Sehzentrum im Gehirn. Die Energieform des aufgenommenen Reizes wird während der Wahrnehmung mehrfach verändert, bearbeitet und weiterverarbeitet. Zuerst handelt es sich um Lichtwellen (z.B. bei optischer Wahrnehmung), die in chemische Prozesse umgewandelt werden müssen, damit sie als Nervenimpulse ans Gehirn weitergeleitet werden können, um dort bewertbare Bilder zu erzeugen.
FAKTOREN, DIE DIE SUBJEKTIVE WAHRNEHMUNG BEEINFLUSSEN
Aufmerksamkeit
In jeder Situation wird der Hund von einer Vielzahl von Reizen überflutet. Er sucht sich die Reize aus, die für ihn in der jeweiligen Situation relevant sind und blendet den Rest aus bzw. nimmt diesen gar nicht erst wahr. Dieses Auswählen wird selektive Wahrnehmung genannt.
Intensität
Die größten, lautesten, deutlichsten, intensivsten Gegenstände, Reize, Geschmäcker etc. werden sehr viel wahrscheinlicher wahrgenommen als weniger intensive Reize.
Veränderungen
Veränderungen in der Umwelt werden viel wahrscheinlicher wahrgenommen als Dinge, die sich nicht verändern. Wenn die Veränderung plötzlich eintritt, wird sie besonders deutlich wahrgenommen.
Bewegungen
Bewegte Objekte, Bilder etc. werden wahrscheinlicher wahrgenommen als unbewegte Objekte.
Wiederholungen
Dinge oder Abläufe, die einige Male wiederholt werden, werden leichter wahrgenommen als Ereignisse, die nur ein einziges Mal auftreten. Treten die Wiederholungen zu häufig auf, werden sie nicht mehr wahrgenommen, weil Habituationslernen stattgefunden hat und die Aufmerksamkeit stark nachlässt.
Konzentration
Jedes Individuum kann sich bewusst für eine Sache entscheiden und sich darauf konzentrieren. So konzentriert sich z.B. ein hungriges Tier auf die Suche nach Nahrung und nimmt Spielzeug gar nicht wahr. Andere Reize, die nichts mit der aktuellen Sache zu tun haben, werden ausgeblendet. Die Fä- higkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren, ist von Individuum zu Individuum verschieden, kann trainiert und verbessert werden. Reize, die das Leben des Individuums gefährden, können nicht ausgeblendet werden, egal wie hoch die Konzentration auf etwas anderes ist. Der Geruch von Feuer löst immer Alarmbereitschaft aus.
Optische Täuschungen
Es gibt Bilder, die subjektiven Charakter haben. Sie werden anders wahrgenommen als sie tatsächlich sind. Ein Beispiel sind Büsche oder Sträucher, die für manche traumatisierten Hunde wie Monster aussehen.
Schädigungen von Sinnesorganen
Durch Krankheiten wie z.B. eine Ohrenentzündung kann das Hörvermögen stark eingeschränkt sein.
Lernerfahrungen
Durch Lernen wird die Aufmerksamkeit auf etwas fokussiert, und es können hinterher auch kleine Abweichungen der ursprünglichen Version erkannt werden.
Motivation/Bedürfnisse
Ist ein Individuum sehr motiviert, etwas Bestimmtes zu finden, wird es dieses sehr viel früher wahrnehmen als jemand, der nicht gezielt danach gesucht hat. Ein Hund, der Angst vor bestimmten Dingen hat, wird jedem noch so kleinen Hinweis darauf sofort ausweichen.
Einstellungen/Erwartungen
Je nachdem, mit welchen Erwartungen und Einstellungen ein Hund an eine Sache herangeht, wird er sie anders wahrnehmen. Ein Beispiel ist ein Passant mit Gehstock. Ein Hund, der einmal von einer Person mit dem Stock geschlagen bzw. verscheucht wurde, wird den Anblick einer solchen Person sofort mit negativen Erwartungen in Verbindung bringen. Auch wenn diese Person den Hund freundlich anspricht und eindeutig signalisiert, dass sie Kontakt zum Hund möchte, wird der Hund misstrauisch bleiben und nur die negativen Aspekte, nämlich den Stock und die Tatsache, dass dieser sich bewegt und ihm Schmerzen zufügen kann, wahrnehmen. Ein Hund, der noch nie schlechte Erfahrungen mit einem Gehstock gemacht hat und der vielleicht sogar von einem freundlichen Nachbarn mit Gehstock regelmäßig ein Leckerli bekommt, wird den Stock und die negativen Eigenschaften, die er haben kann, nicht wahrnehmen, sondern nur die Einladung des Menschen, zu ihm zu kommen.
Figur-Grund-Prinzip
Aus allen zur Verfügung stehenden Reizen wird eine Auswahl getroffen. Es werden nur ein Hintergrund und eine sich davon abhebende Figur wahrgenommen. Ein Hund, der in ein Spiel oder eine Übung mit seinem Halter vertieft ist, nimmt alles, was um ihn herum passiert, nicht wahr. Der Halter und seine Aufgabe werden zur Figur, alles andere zum Hintergrund. Bei einem Hund, der unter einer traumabedingten Hyperaktivität bzw. Hypervigilanz leidet, funktioniert dieses System nicht. Er kann nicht zwischen Figur und Grund unterscheiden, alle Reize sind immer gleich wichtig für ihn. Das ist der Grund dafür, warum er immer sofort von allen Umgebungsreizen abgelenkt wird.
In der nächsten Ausgabe folgt Teil 2: Auswirkungen des Nerven- und Hormonsystems auf das Hundeverhalten.
ALEXANDRA HOFFMANN
TIERPSYCHOLOGIN UND HEILPRAKTIKERIN FÜR PSYCHOTHERAPIE MIT EIGENER PRAXIS IN GERMERING
TÄTIGKEITSSCHWERPUNKTE
Bach-Blütentherapie für Hunde, Veterinärhomöopathie, Humanpsychologie, Notfallmedizin, Prävention und Gesundheitsförderung in der Tiermedizin, Dozentin an den Paracelsus Schulen
KONTAKT
Zeichnungen: ©с 323418412 – Adobe